Am 4. Juni 2020 verstarb in Mainz Dr. Wolfgang Kleiber, ordentlicher (emeritierter) Professor für Deutsche Philologie und Volkskunde an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Die Wissenschaft verdankt dem Verstorbenen als Früchte seines arbeitsreichen und erfüllten Lebens ein an Themen und Schriften weit gespanntes Werk, das sich dem zurückschauenden Betrachter erschließt aus der tiefen Wertschätzung der Landschaft am Oberrhein, der Menschen dort, ihrer Sprache und Geschichte. Wolfgang Kleiber ist am 21. November 1929 im Herzen der Alemannia in Freiburg im Breisgau geboren. Wie sehr schon den Schüler die unerklärten Orts- und Flurnamen, die ihm auf den Dienstreisen mit seinem Vater, einem Oberforstmeister, im Schwarzwald und im Elsass faszinierten, schilderte er beeindruckend in seinem letzten Werk dem „Schwarzwälder Namenbuch“ (2015). Schon damals fiel ihm die Parallelität des Geländenamens Tschalm im Schwarzwald mit la chaume (im Elsass) auf. Aus solchen auf die Lande am Oberrhein bezogenen Schlüsselerlebnissen erklären sich die Breite und Tiefe von Forschung und Lehre Wolfgang Kleibers. Dabei weitete sich der geographische Skopus über den alemannischen Oberrhein auf Grund der Berufung an die Universität Mainz im Jahr 1970 auch auf die rhein- und besonders die moselfränkischen Gebiete aus. Gleichsam den Basso continuo seiner namenkundlichen Forschungen bildeten und blieben bis zum Lebensende die Flur- und Ortsnamen. In der 1957 im Druck erschienenen, von Friedrich Maurer betreuten Dissertation „Die Flurnamen von Kippenheim und Kippenheimweiler“ (südlich von Lahr im Schwarzwald) gewinnt die Namenforschung Kleibers erstmals ihre für die folgende Forschung typische Gestalt: Intensives Studium der archivalischen Quellen, in denen die Namen belegt sind, Aufnahme der Mundartformen im Gelände und dann erst die sprachgeschichtliche Deutung der Namen am Schreibtisch. Zwischen 1957 und 1970 war Wolfgang Kleiber Leiter der germanistischen Abteilung des Instituts für geschichtliche Landeskunde in Freiburg und widmete sich dort intensiv der Erforschung der im Südwesten früh in deutscher Sprache verfassten Urbare im Rahmen des Projekts „Studien zur Vertiefung der Südwestdeutschen Sprachgeschichte“, die in dem Aufsatz „Urbare als sprachgeschichtliche Quellen“ (1965) dokumentiert ist und auch der Namenforschung neue Perspektiven eröffnete. Die Urbar-Forschung bildete auch die Grundlage zum Historischen südwestdeutschen Sprachatlas (HSS), den Kleiber initiierte und zusammen mit Konrad Kunze und Heinrich Löffler in zwei Bänden 1980 herausbrachte. Mit seinem im Wesentlichen onomastisch basierten Aufsatz „Auf den Spuren des Voralemannischen Substrats im Schwarzwald“ von 1960 versetzte Kleiber die Fachwelt zwar in zweifelndes Staunen und begründete die Hypothese von der „Schwarzwald-Romania“, der Kontinuität eines romanischen Idioms im Mittleren Schwarzwald, gab aber auch den Anstoß zur Absicherung der heute nicht mehr angezweifelten Existenz einer Moselromania. Ein wichtiges Dokument, das Aspekte der Sprachkontinuität an Mosel, Mittel- und Oberrhein und im Schwarzwald zusammenführte und die fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit Kleibers an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, besonders mit dem Romanisten Max Pfister, sichtbar macht, ist die gemeinsam mit Max Pfister verfasste Akademie-Schrift zu Aspekten der römisch-germanischen Kontinuität (1992). Das Problem der Ortsnamenkontinuität entlang des Rheins hat Wolfgang Kleiber zeit seines Lebens nicht mehr losgelassen. Das belegen zahlreiche Aufsätze, die sich, wie z.B. die Studie zu den (Relikt-)Namen von Mainz (Finthen, Zahlbach, Attach, Kästrich, Eichelstein) (1991), damit befassten. Die intensive Erforschung der Namenlandschaft an der Mosel, die sich auf das Historische Lexikon der Siedlungs- und Flurnamen des Mosellandes von Wolfgang Jungandreas stützen konnte, und die damit verbundene Erkenntnis, wieviel Römisches relikthaft auch in der Winzerterminologie verborgen ist, brachte Kleiber auf die Idee, ab 1979 am Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz das Projekt eines „Wortatlasses der Kontinentalgermanischen Winzersprache“ zu installieren. Der Atlas – ein Novum, insofern er bereits damals mit Hilfe der Computertechnik erarbeitet wurde – ist in sechs Lieferungen zwischen 1990 und 1996 erschienen. Ein zweiter Forschungsschwerpunkt jenseits der Onomastik, aber doch von den Menschen am Oberrhein inspiriert, zeigt uns Wolfgang Kleiber als den mittelalterlichen Philologen. Mit der Habilitationsschrift von 1971 zu Otfrid von Weißenburg, zur handschriftlichen Überlieferung und zum Aufbau seines Evangelienbuchs wurde Wolfgang Kleiber zum führenden Otfrid-Forscher. Die von ihm mit Ernst Helgardt herausgegebenen kommentierten Bände des Evangelienbuchs (2004-2010) sind nicht nur Marksteine moderner Editionstechnik, sondern krönen auch das Lebenswerk des Verstorbenen. Die Bedeutung, die der Mensch, Forscher und Lehrer für die Germanistik hatte und noch immer hat, spiegelt sich in drei ihm gewidmeten Festschriften (zum 60., 70. und 85. Geburtstag) wider, in denen zahlreiche Freunde, Schüler, Kollegen und Weggefährten mit ihren wissenschaftlichen Beiträgen ihre Wertschätzung zum Ausdruck bringen. Wolfgang Kleiber findet dort die letzte Ruhestätte, wo er geboren wurde: in Freiburg im Breisgau.
Albrecht Greule