Relative Verbreitung des Familiennamens Nemet (und seiner Varianten) 2009 in Ungarn.
Ferenc Vörös: Kleiner ungarischer Familiennamenatlas [Kis magyar családnévatlasz], Pozsony: Kalligram Kiadó 2014, 440 S. – ISBN: 978-80-8101806-0, Preis: HUF 3.700,00; EUR 12,00.
2014 ist ein für die ungarische Onomastik wichtiges und neuartiges Werk erschienen: Der kleine ungarische Familiennamenatlas (UFA) stellt einen Meilenstein in der ungarischen Familiennamenforschung dar. Obgleich der Anspruch an die Erforschung der geographischen Verbreitung der Eigennamen (und insbesondere der Personennamen) in den onomastischen Forschungen seit langem präsent war, ergaben die Bestrebungen nach der diatopischen Deutung und Darstellung onymischer Daten bis jetzt kein zusammenfassendes Werk.
In den letzten Jahren wurden die namengeographischen Forschungen in Ungarn vor allem durch zwei Faktoren beschleunigt: einerseits durch die nunmehr in elektronischer Form zur Verfügung stehenden (vollständigen) Namendatenbanken, andererseits durch die neuen Möglichkeiten, die die Rauminformatik zu deren graphischer Darstellung bietet. Seit der Jahrtausendwende gab es immer mehr Versuche, sowohl das historische als auch das gegenwärtige Familiennamenmaterial hinsichtlich seiner geographischen Verbreitung zu erforschen (u. a. Fodor/Láncz 2011 [Anm. 1], Vörös 2013 [Anm. 2]). Mit dieser Thematik entstand seit 2010 auch eine Tagungsreihe, auf der sich die ungarischen Forscher Jahr für Jahr versammeln und austauschen.
Die Grundlage des Familiennamenatlasses bildet das Familiennamenmaterial Ungarns (Stand 1. Januar 2009). Dies beinhaltet rund 195.000 Familiennamen(-varianten), die von den etwa 10 Millionen Einwohnern Ungarns getragen werden. Die Datenbank wurde der Forschung vom Zentralamt für Staatsverwaltungs- und elektronische Dienstleistungen (http://www.nyilvantarto.hu) zur Verfügung gestellt. In ihr sind die Angaben lokalisiert, d. h. es ist jeweils die Postleitzahl des ständigen Wohnsitzes der einzelnen Namenträger angegeben. Damit werden im UFA praktisch alle Einwohner Ungarns (10.182.552 Personen) erfasst (nicht nur die ungarischen Staatsbürger!).
Nach dem Vorwort des Autors (Kap. 1), das einen Einblick in die Entstehungsgeschichte des Atlasses bietet, berichtet Kap. 2. über die Vorarbeiten am Atlas und erklärt auch die Grundsätze und Methoden, mit denen der Autor bei der Erstellung der Atlasblätter gearbeitet hat. Bei den Merkmalen des gegenwärtigen Familiennamenmaterials wird auf die Problematik der Namendeutung eingegangen, die im multiethnischen und vielsprachigen Ungarn in manchen Fällen besondere Schwierigkeiten bietet. (Der berühmte Familienname Liszt z. B. kann sowohl aus dem Deutschen als auch dem Ungarischen und den slawischen Sprachen erklärt werden.) Außerdem werden Fragen der (größtenteils nicht-ungarischen) mehrteiligen Familiennamen (Graf von Rehbinder, da Silva usw.) erörtert. Besonderes Augenmerk widmet der Autor den madjarisierten Familiennamen, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in mehreren Wellen für viel Bewegung im Familiennamenmaterial Ungarns sorgten. In diesem Abschnitt wird unter anderem auf die Schwierigkeit hingewiesen, die primäre (natürliche) und die sekundäre (durch Namenwechsel entstandene) Schicht des ungarischen Familiennamenmaterials voneinander zu trennen. Bei der Beantwortung mancher offener Fragen halfen dem Autor vor allem zwei historische Namenquellen (die Konskriptionen der Jahre 1715 und 1720) und deren frühere Aufarbeitungen. (Von diesen wichtigen diachronischen Quellen steht die Zusammenstellung der Steuerpflichtigen aus dem Jahre 1720 den Forschern online zur Verfügung: http://adatbazisokonline.hu/adatbazis/az-1720_-evi-orszagos-osszeiras.)
Die Auswahl der Kartenblätter für den vorliegenden Atlas erfolgte aufgrund der Häufigkeit: Familiennamen mit einem Vorkommen von über 10.000 (Namenträgern) ergaben insgesamt 106 Kartenblätter; diese wurden durch einige weitere ergänzt, die charakteristische Phänomene des ungarischen Familiennamenmaterials vor Augen führen. Unter den Atlasblättern gibt es – oberhalb dieser Häufigkeitsgrenze – lediglich einen einzigen Fremdnamen (der nicht im Ungarischen entstand): Novák.
Die im Atlas vorkommenden Namen und Namengruppen werden nach Farkas 2009 (Anm. 3) in neun semantische oder Motivationsgruppen eingeteilt:
Familiennamen
Zum Schluss der Einführung stellt der Autor die Methoden der kartographischen Darstellung vor. Die Karten basieren auf der relativen Häufigkeit der Daten (in ‰ angegeben). Die meisten Namenformen werden doppelt dargestellt: auf einer nach Komitaten eingeteilten Karte (mit den 19 ungarischen Komitaten + der Hauptstadt Budapest) sowie auf einer detaillierten Karte mit allen Postleitzahlbezirken des Landes.
Nach der Angabe der verwendeten Literatur (Kap. 3) sowie der Quellen und Datenbanken (Kap. 4) folgt der Kartenteil des Bandes (Kap. 5, S. 53–433).
Der größte Teil der Karten stellt lexikalische Erscheinungen des Namenmaterials dar. Es werden Beispiele aus den neun Motivationstypen gezeigt: die Familiennamen Barany(a)i, Mezei, Somogyi als Beispiele für Herkunftsnamen, zahlreiche Patronymika, u. a. Antal (< Antonius), Balázs (< Blasius), Fülöp (< Philipp) usw., Völker- und Stammesnamen, z. B. Kun ‘Kumane’, Magyar ‘Ungar’, Berufsnamen Bodnár ‘Wagner’, Fazekas ‘Töpfer’, Pap ‘Pfarrer’, Familiennamen aus Übernamen wie z. B. Király (‘König’), Fehér (‘weiß’) usw. Bei einigen Namen erstellt der Autor anhand der Daten aus dem 18. Jahrhundert auch historische Karten, die einen diachronischen Vergleich ermöglichen.
Außer den lexikalischen Gruppen der Familiennamen werden auch morphologische Erscheinungen des Familiennamenmaterials erörtert. Dem Atlas wurden einige Karten hinzugefügt, die die Verbreitung deutscher und slawischer morphologischer Phänomene vor Augen führen, so z. B. bestimmte Familiennamensuffixe nicht nur des Ungarischen (-i) sondern auch der slawischen Sprachen (-sky, -ovics) bzw. Namen mit dem deutschen Suffix -inger.
Von den semantischen Typen werden patronymische Familiennamen aus Rufnamen martyrologischen Ursprungs wie z. B. Balázs, Márton, Orbán oder Simon vorgestellt. Auch die Verbreitung der Familiennamengruppe mit Berufsnamen aus traditionellen Berufsbezeichnungen wird behandelt: Die drei häufigsten von ihnen sind Kovács (‘Schmied’), Szabó (‘Schneider’), Varga (‘Schuster’). Eine Karte ist jenen Familiennamen gewidmet, die ihrer Motivation nach aus Lexemen für Musikinstrumente entstanden sind: Hegedűs (‘Geiger’), Sipos (‘Pfeifer’), Dudás (‘Dudler’), Dobos (‘Trommler’). Diese Karten, die einen semantischen Namentyp (bestehend aus mehreren Familiennamen) darstellen, sind jedoch m. E. wenig aussagekräftig, da sie kein Muster erkennen lassen.
Danach werden einige morphosemantische Erscheinungen des Familiennamenmaterials dargelegt: Der Autor vergleicht die Verbreitung verschiedener Erscheinungsformen des patronymischen Suffixes -fia (‘Sohn’) sowie der Suffixgruppe -fai, -falv(a)i, -falusi usw. (alle mit der Bedeutung ‘aus dem Dorf’). Bei der letzteren sind die Muster der Kartenblätter z. T. auf die Unterschiede der Ortsnamengebung (mit dem Namenglied falu ‘Dorf’) innerhalb des ungarischen Sprachgebietes zurückzuführen.
Im Zuge der Reformation entstanden in Ungarn eine protestantische und eine katholische Orthographie, die die Schreibung bis zur Standardisierung um die Wende zum 20. Jahrhundert prägten. Diese unterschiedlichen Schreibkonventionen sind auch an der Verbreitung der verschiedenen Schreibvarianten von ungarischen Familiennamen zu beobachten. Als Beispiel dafür steht die diatopische Variation der unterschiedlichen Schreibung des auslautenden [ʧ] mit cs, ch und ts.
Dem Kartenteil des Kleinen Ungarischen Familiennamenatlasses folgen schließlich ein Kartenverzeichnis sowie eine Liste der häufigsten 106 Familiennamen, wo der Familienname Német (‘Deutsch’) an 10. Stelle steht.
Neben allen neuen Ergebnissen gibt es im Atlas leider nur einige wenige farbige Karten (S. 66–80), der größte Teil der Atlasblätter ist schwarz-weiß gedruckt, was die fein gegliederten Daten nur schwer erkennen lässt. (Zudem ist eine Karte, S. 71, verzerrt dargestellt.) Etwas Kritik kann auch der Einteilung in Motivationsgruppen gelten, da oft weniger wahrscheinliche Gründe der Namengebung angegeben werden, z. B. hält der Autor im Falle von Horvát (‘Kroate’), Lengyel (‘Pole’) usw. die Entstehung aus Ortsnamen für wahrscheinlich.
Der Atlasband ist dem Andenken des 2014 verstorbenen Wissenschaftlers und langjährigen Doyen der ungarischen Namenforschung, Professor Mihály Hajdú, gewidmet. Er wird demzufolge zurecht häufig im Atlas zitiert, denn ohne sein reiches Lebenswerk hätte auch dieser Familiennamenatlas nicht entstehen können.
(1) Fodor, János N. / Láncz, Éva F. (2011): A Történeti Magyar Családnévatlasz előmunkálatairól [Über die Vorarbeiten am Historischen Ungarischen Familiennamenatlas], in: Névtani Értesítő 33, 175–190.
(2) Vörös, Ferenc (2013): Mutatvány az 1720-as országos összeírás névföldrajzából [Die Geographie der Namen nach der Volkszählung von 1720], Szombathely.
(3) Farkas, Tamás (2009): Régi magyar családnevek névvégmutató szótára XIV–XVII. század. (= CsnVégSz.) [Rückläufiges Wörterbuch der alten ungarischen Familiennamen vom 14.–17. Jahrhundert], Budapest.
Anikó Szilágyi-Kósa: [Rezension zu] Ferenc Vörös: Kleiner ungarischer Familiennamenatlas, Pozsony 2014, in: Onomastikblog [16.11.2015], URL: www.onomastikblog.de/artikel/ni-rezensionen/rez-ung-familiennamenatlas
Druckversion dieses Artikels als PDF
Dieser Blogartikel und das zugehörige PDF-Dokument sind lizenziert unter CC BY 3.0 DE.
Die Titeldaten für das rezensierte Werk finden Sie im worldcat-Katalog.