28. Internationaler Kongress für Namenforschung

Helsinki, 19.-23. August 2024

Ein subjektiver Bericht

Von Christian Zschieschang

Zum 28. Mal hat das International Council of Onomastic Sciences (ICOS) seinen Namenkundekongress veranstaltet. Die Universität Helsinki bot im Porthania Building (benannt nach dem “Vater der finnischen Geschichtsschreibung” Henrik Gabriel Porthan, was auf dem Kongress jedoch nicht thematisiert wurde, vgl. aber https://de.wikipedia.org/wiki/Henrik_Gabriel_Porthan, 23.9.2024) einen nahezu optimalen Rahmen. Das allfällige Überwinden von sechs Etagen, um von der einen Hälfte der Vortragsräume zur anderen zu gelangen, bot willkommene Gelegenheit zur Bewegung in diesen ansonsten vorwiegend vom Sitzen geprägten Tagen. Allen, die an der nahezu perfekten Organisation beteiligt waren, ist herzlich zu danken!

Die Zeiten sind vorbei, in denen die Leserschaft solcher Berichte über Titel und Autoren der Plenarvorträge und weiterer wichtiger Beiträge informiert werden muss, da Programm und Abstracts (hoffentlich) dauerhaft online verfügbar sind (momentan unter: https://www.helsinki.fi/en/conferences/28th-international-congress-onomastic-sciences/programme, 12.9.2024) und auch die Publikation der Beiträge (in der Reihe Onomastica Uralica) angekündigt ist. Somit ist ein umfassender und von den subjektiven Interessen des Berichtenden freier Überblick über das Vortragsgeschehen leicht zu gewinnen, wobei die Zusammenfassungen der jeweiligen, überwiegend hochinteressanten Beiträge für sich sprechen. Wie misslich es ist, sich immer wieder zwischen mehreren parallel laufenden, gleichermaßen spannenden Voträgen entscheiden zu müssen, ist ja hinreichend bekannt.

Bemerkenswert und damit einer besonderen Erwähnung wert sind die Titel der Sektionen, die von der klassischen Einteilung in Namenklassen beinahe vollständig losgelöst waren:

  • “Changing names”,
  • “Name laws and policies”,
  • “Names and identity”,
  • “Names and minorities”,
  • “Names as cultural heritage”,
  • “Names in literary worlds”,
  • “Names in sustainable cities”,
  • “Names in sustainable economy”
  • “Onomastic databases”,
  • “Onomastics as a sustainable science”,

In der Zusammenschau zeigt sich, dass sie kulturwissenschaftlich ausgerichtet waren, wobei sie auch das Rahmenthema des Kongresses ”Sustainability of names, naming and onomastics” mit Leben füllten. Damit sollten Namen nicht um ihrer selbst willen behandelt werden, sondern als Phänomene und Reflektoren umfassender, oft sogar zentraler Aspekte des menschlichen Daseins. Neben den Einzelvorträgen gab es auch das Angebot, thematische Sektionen zu organisieren. Was bei richtig großen Kongressen gang und gäbe ist, wurde für die Namenforschung unter der Bezeichnung Symposium in Debrecen 2017 eingeführt. In Helsinki wurde dies zweimal aufgegriffen, indem das Programm zwei ganztägige Symposien mit den Themen “Minority place-name regulation in Europe” und “Personal names in a multicultural context“ beinhaltete.

Das Teilnehmerfeld lässt sich durchaus als global bezeichnen, indem alle permanent bewohnten Kontinente vertreten waren. Eine genaue Statistik ist durch das Fehlen von Angaben, aus welchem Land die jeweiligen Referent:innen kommen, erschwert. In der Tat ist es problematisch, ein “Herkunftsland” anzugeben, wenn zahlreiche Biographien von wechselnden Aufenthalten in verschiedenen Staaten und von Migrationen geprägt sind. Das ist auch nicht zu bedauern. Aus etlichen außereuropäischen Staaten war die Präsenz bei früheren Kongressen schon stärker gewesen; dennoch boten sich interessante Einblicke in Forschungsaktivitäten, die man in Mitteleuropa im normalen onomastischen Geschäft sonst selten geboten bekommt. Gerade das ist der Reiz und Vorzug der ICOS-Kongresse, dass sie unerwartete Begegnungen jenseits der individuell bereits etablierten Netzwerke bieten.

Aus Europa waren Teilnehmende aus Nord- und Nordwesteuropa sowie aus zahlreichen ostmittel- und südösteuropäischen Staaten besonders zahlreich. Es zeigten sich aber auch deutliche regionale Lücken, indem von der Iberischen Halbinsel und aus Polen nur Wenige den Weg nach Helsinki gefunden hatten. Über Gründe dafür zu sinnieren, steht mir nicht zu, Allerdings konnte man auch die Teilnehmenden aus den deutschsprachigen Ländern beinahe an zwei Händen abzählen. Um es deutlich zu sagen: Aus den baltischen Staaten waren weit mehr Onomast:innen nach Helsinki gekommen als aus Deutschland – bezogen auf die Bevölkerungszahl ergibt das eine etwa zwanzigmal stärkere Präsenz!

Nun soll hier keineswegs der Machtdemonstration einer “großen” Wissenschaftsnation das Wort geredet werden, es ist aber zu fragen, ob sich hiermit nicht eine größere Zahl von Forschenden aus dem globalen onomastischen Diskurs zurückzieht. Es gibt viele Gründe, in der besten Urlaubszeit einen Kongress nicht besuchen zu können oder zu wollen. Es ist aber unwahrscheinlich, dass gegenwärtig ein signifikant größerer Anteil von Wissenschaftler:innen ausgerechnet in der zweiten Augusthälfte verhindert ist als vor – sagen wir – 19 oder 25 Jahren. Oder sollte die Lebenswirklichkeit der heute in der Wissenschaft Tätigen tatsächlich eine andere sein? Auszuschließen ist das nicht, da sich z. B. die Einbindung männlicher Forscher in die Verantwortung für die Familie (Schulferien!) durchaus gewandelt haben könnte. Es wäre interessant, dies näher auszuloten. Dennoch: Eine solch auffällige Abkopplung von der ICOS-Community, die als solche durchaus existiert, indem man die gleichen Kolleg:innen in Dreijahresabständen immer wieder trifft, und dazwischen mangels fehlender fachlicher Berührungspunkte nicht, ist nicht leichtfertig hinzunehmen, zumal man in Helsinki, wie dargestellt, nicht in einem onomastischen Elfenbeinturm saß, sondern aktuelle gesellschaftliche Themen zur Diskussion standen.

Auch bei zahlenmäßig geringer deutschsprachiger Beteiligung wurden wichtige Entscheidungen getroffen. Bei der turnusmäßigen Wahl des ICOS-Vorstands wurden ohne jedweden Dissenz Staffan Nyström zum Präsidenten sowie Yolanda Guillermina López Franco und Peter Jordan zu Vizepräsidenten gewählt. Ebenso reibungslos erfolgte die Wahl der weiteren Mitglieder:innen des Board, über die alsbald die Homepage (https://icosweb.net/) Auskunft geben wird. Den Gewählten ist eine effiziente Arbeit im Sinne eines guten Verhältnisses von (großem) Erfolg zu (geringen) Schwierigkeiten zu wünschen.

Weiterhin wurde auf Initiative von Peter Jordan eine neue  “Working Group on Toponymy” ins Leben gerufen, der auf einen Schlag mehr als 50 Mitglieder beitraten und die vor der Aufgabe steht, das ziemlich breite Feld der geographischen Namen mit Aktivitäten und Veranstaltungen zu beackern. Als ihr Vorsitzender wurde der genannte Initiator und als Stellvertreterin die hierzulande vielleicht (noch) weniger bekannte Chrismi-Rinda Loth aus Südafrika gewählt.

Außerdem kam es zu einer entscheidenden Abstimmung, ob die bisherige Dreisprachigkeit des ICOS und seiner Kongresse (bei der es sich eigentlich um eine “3plus-Sprachlichkeit” handelte, indem verschiedentlich auch die Landessprachen von Kongressorten zugelassen waren) nicht zukünftig einem hundertprozentigen Gebrauch des Englischen weichen sollte. Hierzu gab es im Vorfeld Positionspapiere Pro und Contra sowie kontroverse Diskussionen – zwar nicht auf der Generalversammlung, aber auf den Fluren und in kleineren Runden. Auch der Autor dieser Zeilen hat sich hierzu klar positioniert, was hier aber gerechterweise nicht auszubreiten ist. Nur so viel: Einerseits würde der generelle Ausschluss von Französisch und Deutsch eine gewisse Zahl von Forschern praktisch ausschließen, für die aus bildungsbiographischen Gründen Französisch und Deutsch als Fremdsprachen im Vordergrund standen. Es wurde bereits erwähnt, dass aus manchen romanischen Ländern nur sehr wenige Teilnehmende dabei waren – damit sollte man sich keineswegs abfinden. Und ist die Tür der Mehrsprachigkeit einmal zu, dürfte es schwer werden, sie wieder zu öffnen, um bei einem zukünftigen Kongress in einem romanischen Land aus wissenschaftspolitischen Gründen z. B. auch Spanisch zuzulassen. Das Abstimmungsergebnis macht jedoch solche Sorgen (zunächst) obsolet, da es mit 67 zu 49 Stimmen – also gar nicht einmal knapp – zugunsten der Mehrsprachigkeit ausfiel. Dennoch dürfte die Frage damit nicht auf alle Zeiten entschieden sein. Wie sich der kommende Kongress hierauf auswirken wird, bleibt abzuwarten. Er findet jedenfalls in Wien unter der Federführung von Peter Jordan statt, und zwar vom 16. bis zum 20. August 2027. Save the date! – wie man es heute nennt. Den Termin frühzeitig festzuhalten hilft vielleicht, nicht erneut verhindert zu sein und Teil der globalen ICOS-Gemeinschaft zu werden.